Promotionsschrift von Claus Hebell:  Rechtstheoretische und geistesgeschichtliche Voraussetzungen für das Werk Franz Kafkas, analysiert an dem Roman „Der Prozeß“, München, 1981, Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München, ISBN 978-3-631-43393-5

Der allseits bekannte Roman Franz Kafkas „Der Prozess“ wurde 1914 kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges geschrieben. Die germanistische Fachliteratur hat sich in der Mehrheit der Fälle weitgehend auf die vermeintlich metaphysischen Strafaspekte des Romans konzentriert und dies entsprechend moralisch bewertet, was das negative Schicksal des Protagonisten des Josef K. betraf. Der berühmte Romananfang: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet“, wird mit diesem interpretatorischen Schematismus so ausgelegt, dass die „Todesstrafe“, der Josef K. am Schluss des Romans durch Erdolchen anheimfällt, als indirekte moralische Rechtfertigung für die Anonymität eines absurd verlaufenden Gerichtsverfahren betrachtet wird und gerechtfertigt erscheint. Kafka war promovierter Jurist und praktizierte seit 1908 als Beamter in der Arbeiter-Unfall-Versicherungsgesellschaft für das Königreich Böhmen als Versicherungsjurist. Im Sommer 1905 legte er das rechtshistorische Staatsexamen ab, kannte sich also mit der Rechtsgeschichte und der Strafgerichtspraxis der Kaiserlich-Königlichen Monarchie Österreich-Ungarn bestens aus. Infolgedessen liegt es nahe, in Kafkas Roman „Der Prozess“ die rechtstheoretischen Defekte aufzusuchen, die sich in der antiquierten und wenig rechtsstaatlichen Praxis der Strafgerichte der Monarchie Österreich-Ungarn tatsächlich finden lassen und die Kafka gekannt haben muss.

Der Protagonist des Romans „Der Prozess“ Josef K. hat bekanntlich gegen die absurde Rechtsbürokratie, der er in einem für ihn kaum fassbaren „Prozess“ ausgesetzt ist, kaum eine Chance. Josef K. setzt in seiner gesamten Verteidigungsargumentation gegenüber der absurden Rechtsbürokratie, die ihn schließlich zum Tode verurteilt, die Idee einer rechtsstaatlichen Strafjustiz voraus. Dass diese nicht existiert, wird K. zum Verhängnis. Dieses vermeintlich metaphysische „Verhängnis“ lässt sich jedoch in den Defekten des Rechtssystems und der Strafjustiz der Monarchie Österreich-Ungarn teilweise deutlich nachweisen, sodass der moralisch-metaphysische Strafhintergrund des Gerichts und seiner Überzeugtheit von der Schuld Ks. durchaus einen realen Bezugspunkt für die Romankonstruktion Kafkas besitzt. So lässt sich aus den Strafgesetzbüchern der Monarchie Österreich-Ungarn und Texten zur Verfassungsgeschichte Österreichs partiell nachweisen, dass die absurde und unfassbare Verhandlungsstrategie, mit der die Gerichtsbürokratie in dem Prozess K. zermürbt, sich aus der Problemlage, d. h. den Defekten der Rechtsverhältnisse der K. u. K.-Monarchie ableiten lässt. Der Prozess-Roman Kafkas schildert detailliert die sich wiederholenden Versuche Ks., die Prozessbürokratie und die mit ihr kombinierte Strafjustiz auf den Boden konkreter rechtstheoretischer Tatsachen zurückzuholen. Das Misslingen dieser Bemühungen und die Ausweichmanöver der Strafbürokratie selbst weisen systematisch auf die Problemstrukturen hin, die sich unter anderem aus den Machtbefugnissen einer nicht rechtsstaatlichen Justiz ergaben. Das „Todesurteil“, das in unbegründeter Form über K. verhängt wird, lässt sich gemessen an Kafkas Wissen über die Problematik der Justizbürokratie der Monarchie Österreich-Ungarn durchaus als kritische Darstellung möglicher Individualkonsequenzen einer Prozessbürokratie auffassen, die ihre eigenen Problemdefekte durch die Ausübung von Exekutivmacht gewalttätig verschleiert.

 

Literatur

  • Strafgesetzbuch für Österreich, Regierungsvorlage aus der XXI Session 1912; 90 der Beilagen zu den stenografischen Protokollen des Herrenhauses
  • Fischer, H. / Silvestri, G. (Hrsg.): Texte zur österreichischen Verfassungsgeschichte; Dokument: Dezemberverfassung, Wien 1917
  • Lohsing, E.: Österreichisches Strafprozessrecht in systematischer Darstellung, Wien 1912
  • Novakovsky, F.: Probleme der österreichischen Strafrechtsreform, Opladen 1980
  • Kehlsen, H.: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt an der Lehre vom Rechtssatz, Tübingen 1911